21. März 2018

"Lieber Herbert Reul." Ein kleiner Brief

...diesmal, anders als bei meinen bisherigen Denkschreiben an Politiker dieses Landes, nicht "unter Freunden", nicht in der zweiten Person Singular, nicht in der Maske des vertrauensvollen Tons. Weder das politische Amt, das Sie bekleiden, noch der Anlaß zu dieser Eingabe, geben dazu Anlaß. Es gibt zudem Dinge, zu denen man sich, seien wir ehrlich, jedes weitere Wort sparen kann. Die eigenen Worte richten den, der sie sagt. Bei Ihnen sind es diese Sätze, die Sie im Interview mit der Nachrichtensendung "heute" des Zweites Deutschen Fernsehens von sich zu geben beliebten, im Zusammenhang mit einem alarmierenden Befund - nämlich der Zunahme der Messerattacken in Deutschland, die mittlerweile jeden Tag in den Medien aufscheinen, wenn auch zumeist nur, wenn dergleichen nicht tödlich verläuft, in den lokalen Berichten. Die SPD, die für das Land Nordrhein-Westfalen eine gesonderte Ausweisung in der amtlichen Kriminalstatistik fordert, hat, um die Notwendigkeit dieser Maßnahme zu unterstreichen, durch den innenpolitische Sprecher der Landtagsfraktion, Hartmut Ganzke und den stellvertretenden Fraktionschef Thomas Kutschaty sämtliche Messerattacken in NRW der letzten sechs Monate, also seit dem September 2017 aufzählen lassen. Während dieses Zeitraums kam es zu 572 Fällen im größten deutschen Bundesland. Statistisch gemittelt sind dies 3,14 an jedem Tag. Dabei scheinen die Verhältnisse dort noch im unteren Bereich zu liegen. Für Berlin meldete die "Morgenpost" in der vergangenen Woche:  "In Berlin ereignen sich sieben Messerattacken - pro Tag. In Berlin gab es vergangenes Jahr 2737 Angriffe mit Stichwaffen. In 560 Fällen waren die Täter jünger als 21 Jahre." Die Gewerkschaft der Polizei meldete vor fünf Tagen, wieder auf NRW beschränkt, daß im vergangenen Jahr alle 36 Minuten ein Angriff auf einen Polizeibeamten erfolgt ist - eine Steigerung um 50 Prozent gegenüber dem Jahr 2012: "Im vergangenen Jahr hat es in NRW 7058 Widerstandshandlungen gegen Polizistinnen und Polizisten gegeben. Darauf hat die Gewerkschaft der Polizei (GdP) im Vorfeld der heutigen Diskussion im Düsseldorfer Innenausschuss aufmerksam gemacht. Bei den Angriffen wurden 14 505 Polizisten attackiert, das ist ein Anstieg um fast 50 Prozent in den vergangenen fünf Jahren." Dort wurde auch darauf hingewiesen, daß es sich dabei gezielt um Angriffe auf Polizeibeamte handelt, nicht um einen Anstieg der allgemeinen Gewaltbereitschaft unter der Gesamtbevölkerung: Während die Gewalt in der Gesellschaft immer mehr zurückgeht, werden die Polizisten immer häufiger angegriffen ... "„Meine Kolleginnen und Kollegen werden getreten, geschlagen, geschubst und mit Gegenständen attackiert, nur weil sie eine Uniform tragen“, sagte GdP-Landesvorsitzender Arnold Plickert." 

Aus all dem, was hier zwischen den Zeilen zu lesen, aus den demographischen Veränderungen, die in Folge der "Flüchtlingskrise" über dieses Land hereingebrochen sind wie eine Sturzgeburt, aus den täglichen Nachrichten, und der Erfahrungstatsache, daß sich das Verhalten der angestammten Wohnbevölkerung, der Schonlängerhierlebenden, aller statistischen und kriminologischen Erfahrung nach nur graduell ändert, mit einer Ab- und Zunahme um wenige Prozentpunkte pro Jahr, kann sich jeder einen Reim auf den mutmaßlichen Täterkreis machen. Darum geht es mir nicht. Sie, Herr Reul, haben als Innenminister des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, mithin als dessen zweithöchster Politiker, diesen Befund mit folgenden Worten quittiert:


 Um es schriftlich zu protokollieren (um es für den Fall einer Löschung dieses Videos zu dokumentieren):

„Polizisten schützen wir dadurch, daß wir sie mit Schutzwesten ausstatten, dadurch daß wir sie vorbereiten in Schulungen auf solche Vorgehen, und Bürgerinnen und Bürger werden einfach sensibler sein müssen. Man muß nicht unbedingt Menschen nah an sich ranlassen.“
Ich frage Sie nun als Bürger dieses Staates, und als Einwohner des von Ihnen mitregierten Bundeslandes: Ist das Ihr Ernst? Raten Sie denen, die von der eskalierenden Gewalt in unserem Alltag, auf unseren Straßen betroffen sind, die sich keinen Personenschutz und keine dienstlich gestellten Schutzwesten leisten können, ernsthaft dazu, "Menschen nicht nah an sich heranzulassen"? Kennen Sie die Videoaufzeichnungen von Sicherheitskameras aus Israel, in denen "palästinensische" Attentäter losstürmen und ihre Opfer ohne Vorwarnung niederstechen? Hätten Mia, Mireille, SoopikaMaria, und all die anderen "einfach nur sensibler" sein und lieber eine "Armlänge Abstand" einhalten sollen?

Heute nun haben Sie beliebt, in dieser Causa, wie man im Westfälischen sagt: "noch eine Schippe draufzulegen". Auf Ihrer Facebook-Seite haben Sie dieses gepostet (es handelt sich, wie es bei Personen des öffentlichen Lebens Usus sein sollte, um eine auf "öffentlich" gestellte, frei zugängliche und jederman lesbare Einlassung):

Hier erreichen mich viele kritische Anmerkungen zu dem Satz, den ich im ZDF zum Schutz vor Messerattacken gesagt habe. Und ich muss sagen: zu Recht! Die Äußerung tut mir leid. Um es klar zu sagen: Natürlich ist niemand selbst schuld, wenn er Opfer einer Messerattacke wird. Diese Angriffe sind eine echte Herausforderung. Deshalb werde ich dafür sorgen, dass sie künftig in unserer Kriminalstatistik erfasst werden. Wir brauchen ein besseres Lagebild. Und wir müssen konsequent gegen die Täter vorgehen.


In früheren politischen Verhältnissen, und anderenorts, nannte man das wohl "Selbstkritik". Und nein, Herr Minister: das ist keine angemessene Reaktion. Es wird niemandem, der niedergestochen wird, der ein Opfer von Gewalt wird, ganz unabhängig von Hautfarbe, Ethnie, Herkunft, irgendein Trost sein, daß die Politik auf die Welle der überschäumenden Alltagsgewalt damit reagiert, daß er oder sie jetzt Teil einer offiziellen Statistik wird. Es ist Ihre Aufgabe, dergleichen zu verhindern. Daß dergleichen nicht mit einhundertprozentiger Sicherheit geleistet werden kann, ist banal: ich bitte im Vorfeld darum, das nicht vorzubringen. Aber: eine solche Vergiftung des alltäglichen Lebens, eine solche Unsicherheit, wie sie sich in den letzten drei Jahren in diesem Land ausgebreitet hat: das hat es vor 10, 20, 30 Jahren in diesem Land nicht gegeben. Es hat auch nie eine solche Flucht in Verantwortungslosigkeit und banale Floskeln von Seiten der dafür verantwortlichen Politik - zu der Sie zählen - gegeben. Täter müssen konsequent bestraft werden? (Den hilfreichen Hinweis, daß "Straftaten in diesem Land verboten" sind, konnten Sie sich sparen, da ihre Parteikollegin und wiedergewählte Kanzlerin uns schon darüber in Kenntnis setzte.) Ist eine solche Selbstverständlichkeit in einem Rechtsstaat Ihr letzter Schluß? Darin zeigt sich, lassen Sie mich ganz offen sagen, die nackte Hilflosigkeit. Sie erklären den Bürgern nämlich: Wir können nichts tun, wir können das nur regstrieren.

Herr Reul, als jemand, der Sozial- und Erziehungswissenschaften studiert hat, mögen Sie auf dem Gebiet der Staatskunde nicht sonderlich firm sein. Deswegen erlaube ich mir an dieser Stelle, Ihnen eine kleine Hilfestellung zu präsentieren. Nach der klassischen Staatslehre gibt es zwischen dem Staat, genauer gesagt: der Regierung und dem von ihm Regierten, den Bürgern, ein zumeist schriftlich, in Verfassungen und Partikulargesetzen fixiertes, zumindest aber implizit akzeptierten und respektiertes Machtverhältnis. Dabei ist es ohne Belang, ob die jeweilige Staatsform nun eine Demokratie, eine Oligarchie, eine absolute Monarchie, eine Theokratie darstellt. Die Daseinsberechtigung des Staates, auch genauer gesagt: seiner Regenten, Präsidenten, seines Staatsapparates unterliegt dabei Bedingungen. Ihre Erfüllung allein gibt dem Staat das Recht, in das Leben seiner Bürger einzugreifen, ihm durch Gesetze und Vorschriften Freiheiten zu beschneiden, Steuern für seine Dienste abzunehmen, ihm, in geregelten Fällen und in Berufen mit Schutzfunktion für ebendiese Bürger, sogar den Einsatz des eigenen Lebens abzuverlangen, etwa als Polizist oder Soldat. Rousseau hat diesem Konzept den namen contrat social gegeben; es stammt in seiner ausgereiften Form von seinem Landsmann Montesquieu; formuliert worden ist es zuerst, 1651, im zweiten Buch von Thomas Hobbes Leviathan, präzisiert hat es John Locke 1692 im neunten Kapitel der zweiten "Abhandlung über die Regierung", dem Second Treatise on Government. (Hobbes' favorisierte Staatsform war die absolute Monarchie, ohne eine Bürgervertretung in Form eines Parlaments; Locke hat es im Hinblick auf eine konstitutionelle Monarchie mit turnusgemäß neu besetztem Parlament konzipiert; Montesquieus Beitrag ist die Betonung der Notwendigkeit der Staatsgewalt in die drei unabhängigen Bereiche der Legislative, Judikative und Exekutive.) Einig sind sich diese drei Begründer der modernen Staatsauffassung in einem Punkt: die oberste Pflicht einer Regierung, die einzige, die ihr die Verfügungsgewalt über ihre Bürger rechtfertigt, ist der Schutz seiner Bürger sowie deren Eigentum. Das allein rechtfertigt auch jenes andere moderne Staatsprinzip: das Gewaltmonopol des Staates. Der Bürger kann diese Aufgabe nicht aus eigener Kraft erledigen. In einem Zustand der Anarchie, in dem das für ihn nötig wird, bleibt kein Raum zu einer selbstbestimmten Lebensführung, zu einer Entfaltung seiner Arbeitskraft, zur Teilnahme an der Gesellschaft, an ihren politischen Institutionen und deren Willensbildung, kurz: zu einem Leben, das über das Gesetz des Dschungels, des schieren Überlebens, hinausgeht. Und an den notorischen Ausspruch ihrer Metierskollegin Katrin Göring-Eckardt anzuknüpfen: Ein Land, in dem "das Zusammenleben täglich neu ausgehandelt" werden muß - und nicht etwa einem allgemein verbindlichen Regelkanon, Gesetzen, einer einklagbaren Justiz bestimmt wird, ist keines. Und schon gar nicht ist es eines, auf das man sich freuen kann.

Ich will nicht zuviel in Ihre törichten Sätze hineinlesen: allzu drastisch spricht aus ihnen die in unserer Politik leider flächendeckend gewordene Betriebsblindheit, die sich an Schlichtestes, hält, weil sie den Blick für das, was in diesem Land vor sich geht, verloren hat, weil sie sich dem verweigert: sie will sich ein besseres Lagebild verschaffen, wo jedes Gespräch mit "den Menschen im Lande" (statt nur in der autistischen, selbstreferentiellen politimedialen Filterblase), jeder Blick in die Meldungen aus der Polizei, aus dem Gesundheitswesen, und der alltäglichen Praxis der Justiz ausreichen sollte. Aus ihr spricht eine Verantwortungslosigkeit, die seit Jahren unbekümmert um die Folgen ihres Handelns diesem Land ein unlösbares Problem nach dem anderen aufhalst, von der Energiewende über die Eurorettung, eine nie dagewesene Massenflutung mit Armutsmigranten und wohl auch der sofortigen Rettung Afrikas vor sich selbst. Einer Politik, in der Versagen, ob nun persönlich oder als Vorsitzender einer Behörde, keinerlei Konsequenz mehr nach sich zieht - außer der der umstandslosen Beförderung. Es wirkt im Endeffekt, als betrachte die politische Klasse - in der die Parteien keine Rolle mehr spielen, in der es nicht mehr um unterschiedliche Ausrichtungen geht, um die Vertretung von Interessen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, sondern nur, völlig frei von der Parteizugehörigkeit, um einen Berechtigungsschein für den Zugang zu den staatlichen Futtertrögen (vom Parlament bis zum zahllos wuchernden Gremien), in der Medien und Politik zu einer metastasierenden Krake verschmolzen sind, die nur zuläßt, was dem eigenen wuchernden Zuwachs dient und Meinungskorridore verengt (mit der Nebenfolge, selbst nur noch das wahrzunehmen, was aus dem Inneren diese Blase heraus generiert wird) - als betrachteten die Vertreter der Politik und dieser Medien, die ununterscheidbar voneinander geworden sind, ihre Posten als ein ihnen zustehendes Privileg, mit dem Wähler wie dem Zwangsgebührenzahler als einer lästigen Notwendigkeit, deren Aufgabe es ist, sie auf ihren Posten zu bestätigen und zu finanzieren. Herr Reul: in beiden Punkten liegt dieses Personal (für das ich mir aus Gründen des Anstands die Vokabel Kamarilla verkneife) falsch: die Aufgabe der Medien ist nicht, die Realität und die Entwicklungen in diesem Lande schönzufärben, das endlose Loblied der ewiggleichen Politiker zu singen und die Bürger gefühlte fünfzig Stunden mit Propaganda zu überschütten. Und die Bürger sind nicht die Untertanen dieser Politkaste, die deren selbstherrliche Irrfahrt und ihr Versagen hinzunehmen, zu beklatschen und zu finanzieren zu haben. Sie sind der Souverän, und Sie, Herr Reul, sind Bediensteter und Angestellter dieses Souveräns. Und Ihre Aufgabe ist es, dieses Land zu verwalten, für Sicherheit zu sorgen, und dafür zu sorgen, daß dies auch noch in Jahrzehnten der Fall sein wird. Für die Kinder dieser Bürger und deren Kinder. Für die Menschen, die in diesem Land außerdem leben, es besuchen, hier arbeiten, ohne seiner Staatsbürger zu sein. Die sich an die Gesetze halten, seine Kultur achten, und nicht für allen anderen Menschen in diesem Land eine Belastung oder gar eine Bedrohung darstellen. So, wie es auch in allen zivilisierten Gesellschaften dieser Welt seit Jahrhunderten der Fall war. Und nicht vom Treiben einer unverantwortlichen und unfähigen Politik gezwungen werden, "sensibler zu sein."

Das ist eigentlich alles. Selbst ein deutscher Politiker sollte in der Lage sein, dies zu begreifen.

Ich verbleibe, grußlos,


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Ulrich Elkmann

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