28. Juni 2012

Deutschland-Italien 1970. Eine Erinnerung an das "Jahrhundertspiel"


Die Inschrift auf dieser Gedenktafel am Aztekenstadion in Mexiko-Stadt lautet in deutscher Übersetzung:

Das Aztekenstadion ehrt die Nationalmannschaften von
Italien (4) und Deutschland (3),
bei der Weltmeisterschaft 1970 Akteure des
"Jahrhundertspiels"
17. Juni 1970

Wer, sagen wir, vor 1962 oder 1963 geboren und Deutscher ist, der wird sich an dieses Jahrhundertspiel erinnern. Wie das Spiel heute Abend war es ein Halbfinale zwischen Deutschland und Italien. An einem Mittwoch, dem 17. Juni, also dem Tag der Deutschen Einheit. Der Volksaufstand in der DDR lag damals gerade einmal 17 Jahre zurück, war also noch frischer in Erinnerung als heute die Wiedervereinigung.

Als die 90. Minute lief, schien das Spiel durch das frühe Tor Boninsegnas verloren zu sein. Wir Zuschauer hatten resigniert, vor unseren Fernsehern; damals noch ohne Public Viewing und überwiegend noch schwarzweiß.

Denn zwar war diese WM als erste auch in Farbe zu sehen. Aber das Farbfernsehen war damals in Deutschland noch nicht einmal drei Jahre alt; ein Gerät kostete mit rund 2400 DM mehr als die Hälfte des Preises für einen VW 1200 "Käfer" in der Grundausstattung. Folglich guckte man entweder zu Hause mit Freunden schwarzweiß, oder man verfolgte das Spiel in einer der Kneipen, die mit großen Schildern "WM in Farbe!" auf ihren besonderen Service aufmerksam machten.

Also, es schien schon alles verloren, - - als in der Nachspielzeit Karlheinz Schnelliger plötzlich "aus der Tiefe des Raumes" auftauchte und den Ball irgendwie über die Torlinie beförderte; "beide Beine voraus, ziemlich unelegant, mit massiver Rücklage" erinnert sich Michael Sontheimer.

So genau weiß ich das nicht mehr; nur, daß niemand mehr mit diesem Tor gerechnet hatte. Noch dazu durch Schnellinger, einen Verteidiger und auch noch den "Italiener". Damals war es noch die Ausnahme, daß ein deutscher Spieler ins Ausland ging, als schnöder "Legionär". Uwe Seeler hat es aus Patriotismus nie getan.



Die Mannschaft werden die Meisten, die damals das Spiel sahen und sich ein wenig für Fußall interessierten, noch heute in großen Teilen aufsagen können.

Das Auffälligste war die Doppelspitze. Helmut Schön hatte für das Problem, daß Deutschland mit Gerd Müller und Uwe Seeler über zwei Weltklasse-Mittelstürmer verfügte, eine geniale Lösung gefunden, indem er sie einfach beide aufstellte; Seeler etwas weiter zurückhängend. So, als würden heute Gomez und Klose in trauter Eintracht zugleich spielen.

Es war kaum ein Spieler in diese Mannschaft, der nicht Anspruch auf den Titel "Fußball-Legende" hätte:
  • Sepp Maier im Tor; unschlagbar jedenfalls, was seinen Humor à la Karl Valentin anging

  • Berti Vogts, der "Terrier"; ein unerbittlicher Verteidiger. Schon damals ging, wie später als Bundestrainer, dem gelernten Werkzeugmacher die "Ordnung" über alles.

  • Siggi Held von Borussia Dortmund; er trat, wie die "Bild"-Zeitung schrieb, mit seinem Mannschaftskollegen Lothar ("Emma") Emmerich "gemeinsam vor den Traualtar" (d.h. es gab eine Doppelhochzeit)

  • Reinhard Libuda (eingewechselt), der sagenhafte Schalker Flügelstürmer und Dribbelkünstler ("An Gott kommt keiner vorbei. Außer Libuda")
  • Und Franz Beckenbauer und Wolfgang Overath, Jürgen Grabowski und all die anderen.

    Nicht Günter Netzer, obwohl ich das so in Erinnerung gehabt hatte. Er war damals von Helmut Schön ausgemustert worden und erst bei der EM 1972 dabei.

    Also, durch Schnellingers Tor in letzter Minute waren wir in die Verlängerung gekommen. Und die ließ sich bestens an: In der 4. Minute schoß Müller eines seiner berühmten Abstauber-Tore: Er fing einen Rückpaß zum italienischen Torwart ab, drehte sich, und dann war der Ball im Tor.

    Aber das 2:1 hielt nicht lange. Schnell glichen die Italiener erst aus und gingen dann 3:2 in Führung.

    Resignation machte sich breit vor den deutschen Fernseh­schirmen; den schwarzweißen in den Wohnungen und den farbigen in den Kneipen. Die Italiener beherrschten, so wußten wir, den Super-Catenaccio; sie hatten ihn ja erfunden, diesen Sperriegel, heute "Viererkette" geheißen. Sie würden ihren Sieg bestimmt nicht mehr gefährden, nichts mehr "anbrennen lassen", wie man sagte.

    Und dann: In der 110. Minute das 3:3! Eine Gemeinschaftsproduktion der beiden "Mittelstürmer": Uwe Seeler köpft in Richtung Tor, und Gerd Müller verlängert über die Linie.

    Also hatte er alles richtig gemacht, unser Helmut Schön, der "Mann mit der Mütze"; zu seinen besten Zeiten ähnlich beliebt wie heute Jogi Löw. Die Doppelspitze hatte funktioniert.



    Der Rest ist bekannt. Schon einen Minute nach Müllers Tor stellte Rivera mit dem 4:3 den Endstand her.

    Ein Jahrhundertspiel, obwohl wir doch verloren haben? Ja, so ist das. In der Historie des Fußballs wie in der großen Geschichte.

    Die Schlacht an den Thermopylen haben die Griechen im Jahr 480 v.Chr krachend gegen die Perser verloren. Aber - so ist es überliefert - ein Trupp tapferer Spartaner unter Leonidas hielt in der schmalen Schlucht der Thermopylen das persische Heer so lange auf, bis die Griechen sich geordnet zurückgezogen hatten. Und bezahlte das mit dem Leben.

    Ihnen, den Verlierern, flocht die Nachwelt ihre Kränze. Für Leonidas und seine Mannen dichtete der damals schon greise Simonides von Keos die Verse, die Schiller so übersetzt hat:

    Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest
    uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.

    Nein, liegen sehen wollen wir sie heute Abend nicht, unsere Jungs. Wir wollen sie laufen sehen, wirbeln, den Italienern ihr schnelles Spiel nach vorn aufzwingen.

    Und wenn sie am Ende heroisch untergehen, wie vor 42 Jahren Uwe Seeler und seine Mannen - was soll's. Ich für meinen Teil drücke dann am Sonntag den Italienern den Daumen; denn gegen den Europameister zu verlieren ist ja keine Schande.­
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelbild vom Autor Hellner in die Public Domain gestellt.